Two Thumbs Up DE

Die Originalversion des Interviews mit Christine Stevens Mills auf Englisch findest du hier

Interview mit Christine Stevens Mills

Christine Stevens Mills Picture

Christine Stevens Mills ist eine der führenden ExpertInnen zum Thema Daumenlutschen und Abgewöhnung. Sie hat mehr als 45 Jahre Erfahrung in diesem Bereich.  Ausserdem hat sie das Buch Two Thumbs Up geschrieben, in dem sie auf das Daumenlutschen, mögliche Komplikationen und Behandlung eingeht. Wir glauben, dies ist eines der besten Ratgeberbücher zum Thema.

Weitere Informationen zu ihrem beeindruckenden Lebenslauf findest du hier

Wir sind sehr dankbar, dass Sie ihr grosses Wissen zu diesem Thema mit uns teilt. 

Daumenkinder: Du hast ein sehr interessantes Buch mit vielen Hintergrundinformationen über Daumenlutschen, die Risiken und Behandlung geschrieben. Was hat dich dazu bewegt dieses Buch zu schreiben?

Christine Stevens Mills: Viele Gründe: Ich habe immer wieder gehört «Daumenlutschen ist nur eine einfache Angewohnheit, die sich gibt, sobald das Kind bereit ist – gar kein Problem». Dies entspricht aber nicht der Realität. Über die letzten 40 Jahre habe ich unter anderem Kinder von Zahnärzten und Kinderärzten behandelt. In den Gesprächen mit ihnen habe ich immer wieder das gleiche gehört: «Ich wusste gar nicht, dass Daumenlutschen so viele Probleme verursachen kann und kannte keine andere Behandlungsmethode abgesehen von HBA

Als Therapeutin und Lehrerin entschloss ich mich dieses Buch zu schreiben. Ich wollte nützliche Informationen für Eltern und Fachleute erstellen. 

In Schulungen sage ich immer: «Wenn du es nicht kennst, wirst du es nicht sehen, wenn du es nicht siehst, wirst du es nicht behandeln können.» Sobald Eltern und Fachleute die richtigen Informationen haben, können sie selber entscheiden, ob und wie sie dieses Thema angehen möchten.

HBA (habit breaking approach) lässt sich als gewohnheitsbrechender Ansatz übersetzen. Christine Steven Mills spricht hier eine Behandlungsmethode an, bei der ein Zahnarzt eine Art Zahnspange einsetzt, die das Daumenlutschen verhindern soll. Es gibt herausnehmbare und fixe HBAs. In der Regel wird dadurch aber das Essen erheblich erschwert. 

Daumenkinder: Was ist für dich das grösste Risiko beim Daumenlutschen? 

Christine Stevens Mills: Die möglichen Komplikationen sind:

  1. Veränderungen in Wachstum und Entwicklung von Gesicht, Kinn und Zähnen
  2. Abweichungen beim Essen, Trinken und Schlucken
  3. Sprachstörungen
  4. Gestörte Atmung

Daumenkinder: Wie können Eltern erkennen ob das Daumenlutschen ihres Kindes ein Problem darstellt?

Christine Stevens Mills: Ich erkläre dies gerne mit der folgenden Formel:  Häufigkeit + Intensität + Dauer = Grösse des Schadens

Daumenkinder: In deiner Tätigkeit und im Buch nutzt du einen positiven Ansatz, der das Verhalten ändern soll. Welches sind die Schwerpunkte dieses Programms?

Christine Stevens: Sensibilisierung, Generalisierung und Gewohnheitsumkehr. Das Kennen von allen Aspekten und Facetten und die Suche nach dem Auslöser beim Individuum. Auflösung der alten Gewohnheit und Aufbau von neuen, gesunden Gewohnheiten. 

Daumenkinder: Du weist explizit darauf hin, erst mit dem Programm zu starten, wenn das Kind bereit ist. Warum?

Christine Stevens Mills: Wenn das Kind nicht bereit ist, wird es nicht genügend kooperieren. Ich glaube, dass das Kind Hilfe haben will um erfolgreich zu sein. Meine Aufgabe als Therapeutin ist es eine Hilfestellung anzubieten. Aber es gibt viele Komponenten, die dazu beitragen, dass ein Programm erfolgreich ist. Die Bereitschaft des Individuums ist nur eine davon. 

Daumenkinder: Glaubst du, dass die Eltern warten sollen bis das Kind bereit ist oder es aktiv begleiten, damit es bereit wird? 

Christine Stevens Mills: Diskussionen und Kommunikation sind sehr wichtig. Während der Behandlung frage ich immer: «Willst du mit dem Daumenlutschen aufhören?» Die Antwort ist sehr oft «nein». Meine Aufgabe ist es dann herauszufinden, wieso. Oftmals steckt hinter dem Nein die Angst vor dem Unbekannten oder sie haben Angst es nicht zu können und damit ihre Eltern zu enttäuschen. Es gibt aber auch einige, die wirklich nicht aufhören wollen. 

Daumenkinder: Wie wichtig ist es, dass die ganze Familie und weitere Betreuungspersonen involviert sind?

Christine Stevens Mills: Extrem wichtig. Ich involviere immer die ganze Familie jeder muss mitmachen, motivieren und bestärken. Diese Beteiligung bekräftigt das Kind darin erfolgreich sein zu wollen. Auch bei geschiedenen Eltern ist es sehr wichtig, dass beide Elternteile mit dem Programm einverstanden sind und mitziehen. Insbesondere wenn das Kind zwischen den zwei Haushalten wechselt. 

Daumenkinder: Welches ist das beste Alter um mit dem Daumenlutschen aufzuhören?

Christine Stevens Mills: Die American Academy of Pediatrics und die American Dental Association sind sich einig, dass es bei regelmässigem Daumenlutschen nach dem dritten Lebensjahr zu Veränderungen beim Wachstum und der Entwicklung von Zähnen und Kiefer kommt. Früher ging man von sechs Jahren aus, aber neue Forschungen zeigen, dass ab drei Jahren das kritische Alter beginnt. 

Aber jedes Kind ist unterschiedlich in der Entwicklung und wir müssen dies berücksichtigen. 

Daumenkinder: Was denkst du über Schnuller?

Christine Stevens Mills: Es gibt Vorteile und Nachteile bei Schnullern. Ein Schnuller für das erste Lebensjahr ist in Ordnung. Er fördert das Saugen und kann das Risiko für den plötzlichen Kindstod reduzieren, um nur zwei Vorteile zu nennen. 

Daumenkinder: Basierend auf deiner Erfahrung, waren alle Kinder erfolgreich mit der Abgewöhnung?

Christine Stevens Mills: Wenn man mein Buch gelesen hat, wird man verstehen, dass jedes Kind einzigartig ist und das jeweilige Programm muss genauso einzigartig sein wie das Kind.  Das Kennen von allen Facetten und Auslösern und der Umgang damit ist entscheidend. Die Kinder, die einen Rückfall erleiden, tun dies in der Regel aufgrund eines speziellen Auslösers. Es ist dann meine Aufgabe als Therapeutin zu verstehen, was dieser Auslöser war und wie man damit am besten umgeht. 

Daumenkinder: Was sind die Vor- und Nachteile deines Ansatzes zur positiven Verhaltensänderung im Vergleich zu HBA.

Christine Stevens Mills: Die meisten Patienten haben mein Programm als positiv, verspielt und einfach wahrgenommen und es nach einem Monat abgeschlossen. 

HBA wird meistens von Zahnärzten empfohlen, weil sie keine Alternative kennen. Die Patienten, bei denen HBA nicht funktionierte und die dann bei mir gelandet sind, haben die HBA-Behandlung als negativ erlebt. Sie war schmerzhaft und erschwerte das Essen und Sprechen.

Einige Kinder schaffen es trotz HBA weiter am Daumen zu lutschen indem sie den Mund sehr weit öffnen. «Wo ein Wille ist ist auch ein Weg.» Wir müssen das Problem behandeln, nicht das Symptom. Eine genauer Vergleich zum HBA sowie den Nebenwirkungen findet man auch im Buch. HBAs werden typischerweise für viele Monate getragen. Der Ansatz der positiven Verhaltensänderung ist nach einem Monat abgeschlossen und es muss nichts im Mund getragen werden. 

Daumenkinder: Was hälst du von Produkten wie T-Guard oder DrThumb?

Christine Stevens Mills: Ich kenne einige Produkte aus dem Internet und bin sicher jedes Produkt funktioniert für jemanden. Ich sehe die Produkte aus dieser Perspektive:

  1. Behandeln die Produkte den Auslöser oder ist es etwas, das man am Daumen trägt, um die Gewohnheit zu unterbinden und damit langsam zu reduzieren? 
  2. Gibt es einen medizinischen Grund oder psychologische Probleme für das Individuum zum Daumenlutschen, welche zuerst behandelt werden müssten?

Bitte sei dir bewusst, ich gebe kurze und generalisierte Antworten. Es gibt keine schnelle Lösung. Viele Geräte behandeln lediglich ein Symptom und nicht die Ursache.  Meine Aufgabe als Therapeutin ist es alle Aspekte des Daumenlutschens zu kennen und auch zu erkennen, ob das Individuum bereit für diesen Schritt ist. Danach erstelle ich einen Plan, um das Individuum durch den Prozess zu begleiten. 

Mein Buch folgt dem gleichen Muster: Kennen der Faktoren, Evaluation und Erstellung eines Programmes, um dem Kind zu helfen. 

Daumenkinder: Wie lange dauert dein Programm in der Regel?

Christine Stevens Mills: Ein Monat. Viele Patienten legen die Gewohnheit innerhalb von ein paar Tagen bis zu einer Woche ab. Aber es braucht mindestens 30 Tage bis sich die neue Gewohnheit stabilisiert hat. 

Daumenkinder: Können Eltern das Programm erfolgreich durchführen nachdem sie dein Buch gelesen haben oder braucht es professionelle Unterstützung? 

Christine Stevens Mills: Ich empfehle stark mit einem gut ausgebildeten und erfahrenen Therapeuten zu arbeiten. Aber mir ist klar, dass viele Eltern in einer Gegend leben, wo es einfach keine solchen Therapeuten gibt. Dies ist auch einer der Gründe, weshalb ich dieses Buch geschrieben habe. Wenn Eltern das ganze Buch gelesen haben, erhalten sie ein gutes Verständnis von den Problemen und eine Schritt-für-Schritt-Anleitung. Also ja, ich glaube Eltern können ihrem Kind helfen. Im Buch gibt es ausserdem ein Kapitel über Dinge, die man vermeiden sollte und wie man erkennt, ob das Kind bereit ist. 

Daumenkinder: Gibt es etwas Wichtiges, das wir noch nicht besprochen haben? 

Christine Stevens Mills: Langanhaltendes Daumenlutschen kann nicht nur zu strukturellen sondern auch zu funktionellen Störungen beitragen. Strukturelle Veränderungen wie hoher, schmaler und gewölbter Gaumen, schmale Nasenlöcher, Veränderungen im Wachstum und in der Entwicklung der orofazialen Struktur und Fehlausrichtung der Zähne. Funktionsänderungen wie Atemstörungen, Probleme beim Essen, Trinken und Schlucken und Sprachstörungen.

Wenn ein Körperteil nicht funkioniert, passen sich andere Körperteile an und kompensieren dies.  Durch das Daumenlutschen verändert sich die Ruheposition der Zunge und verursacht wiederum Veränderungen in den Ruhepositionen von Lippen, Kiefer und Kopf. Diese Veränderungen können dazu führen, dass sich die Funktionen anpassen und ausgleichen. 

Daumenkinder: Vielen herzlichen Dank für deine Zeit und dass du deine grosse Erfahrung mit uns teilst. Wir empfehlen dein Buch jedem, der sich für dieses Thema interessiert. 

Unser Fazit

Christine Stevens Mills ist ohne Zweifel eine Koryphäe auf diesem Gebiet. Ausserdem gefällt uns ihr Ansatz der positiven Verhaltensänderung, den sie auch gut in ihrem Buch beschreibt. Dieser ist aber eher für grössere Kinder (ab 5 Jahren) geeignet und benötigt ein grosses Wissen und Zeit. 

Um den Ansatz erfolgreich durchzuführen, ist sicher die Begleitung mit einem erfahrenen Therapeuten zu empfehlen. Leider haben wir bisher im deutschsprachigen Raum niemanden gefunden, der diesen Ansatz anwendet. Wenn ihr jemanden kennt, schreibt uns bitte eine Nachricht

Wie gut die Methode ohne Therapeuten funktioniert, hängt nicht zuletzt von den Fähigkeiten und der Zeit der Eltern ab. Wenn ihr damit Erfahrungen gesammelt habt, schreibt uns doch eine Nachricht

Buch: Two Thumbs Up

Understanding and Treatment of Thumb Sucking

Ein Ratgeber für Eltern und Therapeuten, der sich mit dem Daumenlutschen, den Komplikationen und der Behandlung beschäftigt. 

Basierend auf mehr als 40 Jahren Erfahrung in der Behandlung des Daumenlutschens, stellt Christine Stevens Mills ihre Behandlungsmethode (positive behavior modification approach) vor. 

Das Buch ist nur auf Englisch verfügbar. 

Empfehlung
5/5

Informationen zum Buch

  • Titel: Two Thumbs Up
  • Untertitel: Understanding and Treatment of Thumb Sucking
  • Authorin: Christine Stevens Mills
  • Seiten: 113 Seiten
  • ISBN-13 : 978-1548924256
  • Publisher : Independently published
  • Sprache: English
  • Kaufen: Amazon

Christine Stevens Mills

  • Logopädin, IAOM certified orofacial myologist
  • 45 Jahre Erfahrung im Bereich der orofacial myology 
  • Gründung der Suburban Myofunctional Therapieklinik (Privatpraxis, die sich ausschliesslich mit gestörten Sauggewohnheiten beschäftigt) 
  • Autorin von TWO THUMBS UP (understanding and treatment of thumb sucking)
  • Vorstandsmitglied von IAOM
  • Assistenzprofessorin an der Universität von Detroit Mercy (Orthodontic Department) für 19 Jahre.
  • Betreut, berät und unterrichtet weiterhin Klassen. Lehrt derzeit einen von der IAOM genehmigten Kurs. Interessierte Zahnärzte, Ärzte, Logopäden und Zahnhygieniker können sich einschreiben, um mehr über orofaziale, myofunktionelle Störungen und chronische Saugmuster (Daumen-, Finger-, Zungenlutschen) zu erfahren und diese zu behandeln. Detaillierte Informationen zu diesem Training finden man unter: suburbanmft.com